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Piemont in Okzitanien
Reise ins das unbekannte Piemont (April 2014)
Ein Artikel in der FAZ hatte uns neugierig gemacht. Thematisiert waren die Täler in den Piemonteser Alpen, durch die sich der junge Po und seine Nebenflüsse den Weg in die oberitalienische Tiefebene gegraben hatten. Vom Kamm der Cottischen Alpen[1], die heutzutage die natürliche Grenze zwischen Frankreich und Italien bilden, die aber bis ins 18. Jahrhundert nur Wasserscheide, nicht politische Grenze waren, ergießen sich auf Piemonteser Gebiet parallel zueinander verlaufend Dora Riparia[2], Chisone-Pelice, der Oberlauf des Po, Varaíta, Maíra, Grana und Stura di Demonte zur Ebene und vereinen sich südlich Turin zum mächtigsten Fluß Italiens, dem Po.
Nun soll das hier weder ein geologisches, noch geographisches, noch historisches Proseminar werden. Trotzdem darf ich auf ein paar Hinweise nicht verzichten: Eine politische Kuriosität, die geographisch gesehen jeder Vernunft widersprach, war der "Bund von Briançon" (Escartons[3] du Briançon), dessen Territorium sich über beide Seiten des Alpenkamms erstreckte.
In diesem Bund teilten sich seit 1343 in Selbstverwaltung vier (später fünf) Talgemeinschaften gleichberechtigt alle Rechte und Pflichten. Die grundherrlichen Rechte der "Escartons du Briançon" gingen 1349 an Frankreich über und verblieben dort bis zum Vertrag von Utrecht (1713), mit dem die französische Staatsgrenze neu gezogen und die ostalpinen Gemeinden Oulx, Casteldelfino und Pragelato Savoyen zugeschlagen wurden.


Doch damit nicht genug der Kuriositäten: Die "Escartons du Briançon" bildeten die nordöstlichste Ecke Okzitaniens, jener geheimnisumwobenen Sprachregion, die sich von beidseits der Pyrenäen bis ins heutige Piemont erstreckte; Okzitanien [4], für das Begriffe wie Katharer, Templer, Trobadore[5] und Heiliger Gral stehen und dessen Sprache fast versunken ist. Nur noch in einzelnen, verstreuten Sprachinseln wird okzitanisch gesprochen, so in den ehemals briançonischen Escartons im heutigen Italien. - Sofern dort überhaupt noch jemand zu sprechen in der Lage ist.



Diese abseits der Nord-Süd-Verkehrswege gelegenen und nur durch einige wenige, schwierig zu meisternde Alpenpässe mit Frankreich verbundenen und beinahe menschenleeren Täler waren es, die der FAZ vom 28.12.2013 den Artikel "Eine Machete schützt keinen Wanderweg - Das Varaíta-Tal im Westen des Piemont hat den Anschluß an die Touristenströme verpaßt" wert waren. Und uns den Versuch einer Annäherung.

Nun wäre es in unserem Alter ziemlich bescheuert, ins Piemont, Synonym für Trüffel, Barolo, Barbera und Grande Cucina, einiger entvölkerter Seitentäler wegen zu reisen. So haben wir mit uns selbst einen Kompromiß geschlossen: das eine tun und das andere nicht lassen.

Eine Übernachtung in Turin und einige Nächte im piemontesischen Hügelland schienen der ausgleichende Rahmen zu sein für die Entdeckerreise ins Varaítatal mit Casteldelfino und den Seitentälern Pontechianale und Bellino.
Wie das immer so ist: Sobald man ins Detail geht, stößt man auf weitere Sehenswürdigkeiten, die eine intensivere Beschäftigung und einen Besuch lohnenswert erscheinen lassen. Also wurden in den Besichtigungskatalog aufgenommen das Castello della Manta und das Kloster S. Maria di Staffarda, die Burg 5 km südlich und das Kloster 7 km nördlich von Saluzzo. Und da Saluzzo quasi die Einganspforte zum Varaítatal bildet, paßte alles.

Sollen also die Bilder sprechen.


Turin

Auf der Rückseite von S. Cristina ruht sie, Dora Riparia, Hüterin der Colaflaschen und Schöpferin neuen Lebens, die Schöne von der Piazza C.L.N, Symbolgestalt für den gleichnamigen Fluß, der sich durch das Susatal zwängt und bei Turin in den Po mündet. Für diesen liegt gegenüber, Angesicht zu Angesicht mit Dora Riparia, seine eigene Symbolgestalt: der Po. (Diesen hier abzubilden ist mir zu riskant.)



Castello della Manta

Hoch über dem Städtchen Manta erhebt sich die Burg aus dem 14. Jahrhundert.
Nicht die Burg als solche ist weite Umwege wert. Aber die Fresken im Inneren lohnen eine Unterbrechung der Fahrt an die Riviera allemal! Die vier Wände der "Sala Baronala" wurden in der ersten Häfte des 15. Jahrhunderts von dem unbekannten "Meister von Manta" ausgemalt. Auf der den Fenstern gegenüberliegenden Seite sind überlebensgroß je 9 Helden und Heldinnen dargestellt, wobei die Männerdarstellungen (Cäsar, Gottfried von Bouillon, Karl der Große, Josua, Judas Makkabäus, König Artus, Hektor, Alexander der Große und König David) gleichzeitig die Markgrafen von Saluzzo symbolisieren. Die Heldinnen sind Königinnen der Antike und Figuren aus der griechischen Mythologie. Die Fensterseite zeigt in drastischer Darstellung einen Jungbrunnen, so, wie man ihn sich im Mittelalter vorstellte.





Valle Varaíta di Bellino
Varache de Ballin (frz.), Val de Belins (okz.)

10 Kilometer südlich von Saluzzo, einer Kleinstadt, an der die Umgehungsstraße das Beste ist, beginnt das Varaíta-Tal, eigentlich ein Tal wie es Tausende gibt und das beliebig austauschbar wäre mit den übrigen Tälern des Piemont, deren Topographie durch die Po-Zuflüsse aus den Alpen geprägt ist.
Wenn nicht, ja wenn nicht nach 50 Kilometern, in denen - auch nichts Ungewöhnliches - die begleitenden Berge immer höher werden und sich das Tal immer weiter verengt, eine kleine, eigene, fast fremde Welt beginnen würde.
Diese Region, die eine dieser merkwürdigen mitterlalterlichen "Bauernrepubliken von Briançon", der Escartons (s.o.), beherbergt, die mit einer eigenen Hauptstadt Châteaudauphin (Casteldelfino) aufwarten kann, ist als Kuriosum in unserer gleichgeschalteten Welt erhalten geblieben.
In den beiden Tälern, die hier ihren Ausgang finden, dem Valle Varaíta di Chianale und dem Valle Varaíta di Bellino, wird noch Okzitanisch, die Literatursprache des 11. und späterer Jahrhunderte, gesprochen, und zwar das sauberste und reinste Okzitanisch des gesamten (ehemaligen) Sprachraums. Was zweifelsohne der abgeschiedenen Lage der Täler zu verdanken ist.
Deshalb auch hat sich hier unverfälschtes Brauchtum erhalten, das seinen sichtbaren Ausdruck während der Patronatsfeste durch die angelegten Trachten und die Tänze findet. Ungewöhnlich und wohl auch unerklärlich ist die Massierung von Sonnenuhren in den Borgate des Bellino-Tals.



Sant'Anna, am Ende des Valle Varaíta Bellino, 1.850 m über NN






Und eine rätselhafte Häufung von Sonnenuhren ...



... und 27 weitere

In den Borgate (Weilern), die zusammen die Gemeinde Bellino bilden, findet man eine ungewöhnliche Häufung von Sonnenuhren. Insgesamt 32 Zeitmesser aus der Zeit zwischen 1713 und 1934 sind erhalten und in den letzten Jahren restauriert worden; in jeder der Borgate finden sich mehrere Sonnenuhren, allein in der Borgata Celle fünf.
Dabei leben in den sechs Weilern weniger als 150 Personen. Die meisten Häuser sind verlassen und werden höchstens noch in den Sommermonaten als Ferienwohnung genutzt. Geisterdörfer.
Aber die Sonnenuhren. Weshalb diese Häufung? Irdendwo habe ich gelesen, daß zwischen Oktober und April kein Sonnenstrahl den Talboden erreicht. Ist hierin die Erklärung zu finden? Daß man sich in den fünf übrigen Monaten an jeder Minute Sonnenschein erfreute? Auf einer der Uhren steht in drei Sprachen "Sans soleil, ne dit rien / Sine sole silet / Senza sole non dice nulla" = "Ohne Sonne spricht man nicht". Läßt sich das so interpretieren: Keine Sonne, kein Leben? Aber wenn die Sonne scheint, dann genieße jede Minute?



Kloster S. Maria di Staffarda



Die zwischen 1122 und 1138 gegründete Zisterzienserabtei wurde sehr schnell und blieb über einige Jahrhunderte ein starker ökonomischer Faktor für das nördliche Piemont. Landgewinnung, neue Anbau- und Vertriebsmethoden der landwirtschaftlichen Produkte führten zu Begehrlichkeiten. Denen gab 1750 Papst Benedikt XIV nach, indem er das Kloster dem savoyischen Ritterorden der Hl.Hl. Mauritius und Lazarus übertrug, womit das mönchische Leben in Staffarda sein Ende fand. Der Mauritius- und Lazarus-Orden ist immer noch Besitzer des Areals. Die Anlage wird heute als Landwirtschaftsgut betrieben, die Kirche ist Pfarrkirche.
Im romanisch-gotischen Stil und der für die Architektur der Zisterzienser typischen schlichten Bauweise entstand die Kirche zwischen 1150 und 1210. Ungewöhnlich allerdings ist und deshalb überraschend, daß die drei Schiffe in halbrunden Apsiden enden. Ebenso irritierend sind die abwechselnd roten und weißen Ziegelstein-Bänder in Pfeilern, Bögen und Gewölberippen.
Die heute noch erhaltenen, dem ehemals klösterlichen Leben dienenden Anbauten (Refektorium, Kapitelsaal, Kreuzgang) stammen aus dem frühen 14. Jahrhundert. Sie sind ungenutzt und dem Augenschein nach allmählichem Verfall preisgegeben.





Bleibt noch zu erwähnen das Touristische

Wie immer bei unseren Kurzreisen sind wir geflogen (Germanwings ab / bis Düsseldorf) und haben uns in Turin einen Mietwagen genommen (Peugeot 305 über "billiger-mietwagen.de" für 160,00 €).
Für Turin gilt wie für so manchen Ort auf der Welt, den man aus vergangenen Reisen in bester Erinnerung hat: Nichts ist mehr, wie es war. Alles fließt, alles ändert sich. Meist nicht zum Positiven.
Leere Geschäfte, Fensterhöhlen, Magli, Missoni verschwunden, stattdessen Footlocker und Zara neben einem einsamen Vuitton-Laden, verdreckte Strassen, Grafitti, Bettler, Herumstreunende, verlassene Passagen und Galerien - im Herzen der Millionenstadt rund um das Castello, die Piazza s. Carlo, die Via Roma.
Das Belle-Epoque-Café "Torino" mit Brutal-Werbung und nur noch ein Abklatsch vergangener Jahre. Dafür kosten im Fin-de-Siècle-Café "Baratti & Milano" zwei Stücke Torte mit zwei Cappuccini € 23,80.
Unser Rat: Turin von der Agenda nehmen und gleich ins Piemonteser Hügelland fahren.
Dort hat sich nicht viel verändert. Eigentlich gar nichts. Bis auf ein gewisses, jedoch verkraftbares Mehr an Touristen. Der Mangel an Übernachtungsangeboten reguliert das von selbst. Gewohnt haben wir zum zweiten Mal (nach 2004) im ****B&B Bricco dei Cogni in der Nähe von La Morra und Verduno.
Dieses B&B hat die unschätzbaren Vorteile, daß es sehr ruhig inmitten der Weinberge liegt, nur über vier Zimmer verfügt und sehr gute Restaurants genauso wie die Wein(proben)orte Barolo und Asti mit wenigen Fahr-Kilometern erreichbar sind bzw. sich Taxikosten im Rahmen halten.
Immer wieder eine freudige Überraschung bilden die Nightcaps des Bricco dei Cogno: Kommt man spätabends heim, erwarten einen entweder auf dem Zimmer zwei Gläser Barolo (diesmal 2009er) oder im Aufenthaltsraum eine Batterie feinster lokaler Obstbrände.
Gegessen haben wir in der Osteria del Vignaiolo in La Morra und im Il Falstaff in Verduno.

Ausführliche Bewertungen des Bricco dei Cogni und der beiden Restaurants sowie des Hotels und des Restaurants in Turin finden sich auf unserer Reise-Website Wo wir genächtigt haben bzw. Unsere Restaurant-Empfehlungen.




Anmerkungen und Quellen:
[1] In SOIUSA (Suddivisione Orografica Internazionale Unificata del Sistema Alpino), in der die geographische Klassifikation des gesamten Alpenraums verbindlich festgelegt ist, tragen die Cottischen Alpen die Ordnungsnummer "4". Diese "Sektion 4" umfaßt das Gebiet der ehemaligen "Republik von Briançon". (zurück)
[2] Die Dora Riparia wird uns weiter unten im Text und als Bild nochmals begegnen. (zurück)
[3] "Escartons" ist die okzitanische Bezeichnung der im Französichen mit Écartons bezeichneten "Bauernrepubliken von Briançon". Bei diesen handelte es sich um einen Zusammenschluß von ursprünglich vier (später fünf) Bergtäler-Gemeinden beiderseits des Alpenhauptkamms, der fast vierhundert Jahre lang existierte (1343 bis 1713). Auf der östlichen, heute italienischen Seite waren das Oulx (oberes Susatal) und Châteudauphin, ital. Casteldelfino (Varaítatal). Später kam noch Pragelato (Chisonetal) hinzu. (zurück)
[4] 2007 waren wir im okzitanischen Kernland, dem Pays Cathares". Leider war das zu einer Zeit, bevor ich begonnen hatte, meine Reise-Reports zu verfassen. (zurück)
[5] okzitanisch für Troubadour (zurück)

Hintergrundbild und großes Sonnenuhrbild von "Riccardo v/o Ricchi60" auf Flickr
Links:
Abb. Europakarte "Okzitanien" | Okzitanien (dt.) | Escartons, hommes libres (it.) | Sonnenuhren im Varaíta di Bellino-Tal (it.)

Köln, im Mai 2014; © Friedrich J. Ortwein

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